ULLRICH
14. November 2008 | Von admin | Kategorie: FotografieDie Deutschen haben eine tief in ihrem Innern verwurzelte Abneigung gegenüber Genies. Ragt jemand aufgrund seiner besonderen Begabung aus der Masse des Mittelmaßes hervor, wird mit vereinten Kräften an seiner Demontage gearbeitet. Dies ist nichts neues, überraschendes. Es beginnt schon bei der Musterung, den so genannten »Sichtungslehrgängen« in Vereinen und endet bei den im jahrelangen Nahkampf ausgebildeten Kriegern der Moderne, den Sportlern, weil sie, als physiologisch selektierte DNA-Wunder und als Inbegriff eines »gesunden Volkskörpers« ins Rampenlicht gezerrt werden, um dem nationalen Bewusstsein Glanz zu verleihen.
Allerdings haben diese Genies nach den Spielregeln des Mittelmaßes zu spielen. Ad eins: diese Genies müssen Personen ohne Laster sein. Dass ihnen dabei ein paar Tugenden abhanden kommen ist zweitrangig, denn ihre vornehmste Aufgabe ist es, qua ihrer Körperlichkeit der nationalen Glorie zu dienen. Solange diese Personen funktionieren, werden sie mit Geld und feierlichen Worten bei Laune gehalten, gefeiert, gepflegt, der nationalen Sache wegen geehrt und zu Helden aufgebaut. Sollten sie jedoch menschliche Züge an den Tag legen, einen eigenen Willen bekunden, kommt Nietzsches »Kuss, Biss, Hass« ins Spiel. Und dann zeigt das Mittelmaß, welche Doppelmoral ihre Heldenverehrung tatsächlich hat. Am liebsten sieht das Mittelmaß ihre Helden zu Kreuze kriechen.
Zu begutachten ist dies an Jan Ullrich, dem vielleicht größten Genie, das jemals in die Pedalen getreten hat. Er wird gerade von der hungrigen Pressemeute, die sich ja einzig dem geschätzten Leser verpflichtet fühlt und einzig ihrer Pflicht nachkommt, »objektiv« zu berichten, wie eine Sau durchs Dorf getrieben, um ja auch dabei zu sein, wie Ullrich auf der Schlachtbank in Stücke zerlegt wird.
© Kurt Schrage
Dieser Fall Ullrich ist ein nachhaltiges Lehrstück für Eltern, alles Erdenkliche dafür zu tun, damit ihre Kinder nicht in die Knochenmühle des Hochleistungsports geraten. Das Menschliche ist in dieser Höhenluft uninteressant. Es zählt allein die Physis, die nach einem Regelwerk bis an die äußersten Grenzen und darüber hinaus ausgebeutet wird. Widersetzt sich jemand als eine Art »Kriegsdienstverweigerer« diesem Regelwerk, ist seine Aussonderung aus dem System beschlossene Sache. Quertreiber sind unerwünscht.
Der Fall Ullrich birgt aber noch ein weiteres Lehrstück. Es ist die endgültige Abrechnung mit dem DDR-Sportsystem. Darin ist Ullrich groß geworden. Und wer sich die Angst der im Westen etablierten Parteien vor den »Linken« vergegenwärtigt, die sich als Repräsentanten des politischen Mittelmaßes in der politischen Mitte gegenseitig auf die Füße treten, könnte auf den Gedanken, dass es anders als in den Fällen »Stan« Libuda, Steffi Graf oder Boris Becker im Fach Ullrich um mehr geht, als allein ums Geld. Es geht um die nationale »Volksgesundheit«.
Es soll der Eindruck erweckt werden, Ullrich sei ein Betrüger, der seine Leistungen auf dem Rennrad einzig der Zufuhr chemischer Substanzen zu verdanken habe. Dass so nur Personen sprechen können, die nie in ihrem Leben eine schnelle Bewegung gemacht haben oder im Mittelmaß des Sports stecken geblieben sind, verdeutlicht eine weitere Bigotterie: Da ergreifen die gleichen Pressevertreter Partei für einen unlauteren Geschäftsmann, der Ullrich mit einem Millionenversprechen unter Vertrag genommen hat, obwohl dieser Geschäftsmann zu diesem Zeitpunkt längst zahlungsunfähig war. Über solle Kleinigkeiten, es geht ja nur um ein paar Millionen Euro, sieht man großzügig hinweg.
Einmal angenommen, der Geschäftsmann und Ullrich seien tatsächlich Betrüger, welcher Betrug hat in der Bewertungshierarchie einen höheren Stellenwert? Und schließlich: wer von beiden hätte demzufolge der Gesellschaft einen größeren Schaden zugefügt? Meine Antwort: Ich habe die WAZ abbestellt.
Hallo Herr Schrage.,
Ich möchte mich in aller Form für diesen Beitrag bedanken. Er spricht mir und auch allen anderen treuen Ulle-Fans aus tiefster Seele. Ich kann alles unterschreiben was ich in diesem Text vorfinde. Es ist für mich ein enormer Glückstreffer , so eine Darstellung von Jan Ullrichs Situation , in geschriebenen Worten vorzufinden.
Schade , das es wohl nur einen kleinen Kreis gegönnt ist , diese Darstellung der unwürdigen Behandlung dieses begnadeten Radsportlers, zu lesen.
Man hätte es nicht besser in Worte fassen können.
Diese geschriebenen Zeilen gehören eigentlich mehr an die Öffentlichkeit, damit die Leute da draußen , gelähmt durch den Einheitsbrei in den Medien, mal richtig wachgerüttelt werden…
Freundliche Grüße u. weiter so
Angelika. F. Köln
Aus der Seele gesprochen, danke
Was sie hier schreiben trift auf den ganzen Hochleistungssport zu.
Mir geht die Heuchelei auf den Geist. Keiner macht sich sorgen, um die Sportler, wenn die Radfahrer auf 1 cm breiten Reifen mit 100 km/h den Berg runterglühen, wenn die Touren immer länger werden, die Berge immer höher oder wenn z.b. Skifahrer auf immer schmäler werdenden Brettern senkrechte Eishänge mit 130 km/h und mehr runterfahren - wenn man ihnen diese Entscheidung überlässt, dann sollte man ihnen auch die Entscheidung überlassen, wie sie das bewältigen.
Mit besten Grüßen
Löffelmann
Hallo Herr Schrage
Ich kann auch alles unterschreiben was Sie geschrieben haben.Besonders der Aspekt DDR-Vergangenheit war bei mir immer im Hinderkopf. Bei der ganzen Aktion:”Sau durchs Dorf treiben” waren meiner Meinung nach bestimmt viele Wendeverlierer mit am werkeln,weil sie neidisch waren ,das es einer von ihnen zu Erfolg und Geld gebracht hat. Aber wie sagte schon irgent ein Philosoph; ” Neid ist in Deutschland die Form der höchsten Anerkennung.”
Mit besten Grüßen
Armin Zeitz