NETZHAUTKRÜMMUNG
26. Juli 2008 | Von admin | Kategorie: Fotografie, SpamRuheort für Minderleister
Ich lese Zeitung. Ich trinke Kaffee. Mein morgendliches Ritual. Samstagmorgen. Es ist schwül. Ich denke nach, worüber ich heute schreiben soll. Über Tom Wood? Joel-Peter Witkin? Alex Webb? Dabei blättere ich im Wochenendteil der Zeitung meines Vertrauens. Das ist der Teil, in dem es schöngeistig zugehen soll. Fein in Lesehappen gegliedert, garniert mit fototapetengroßen Fotos, damit die Zielgruppe nicht überfordert wird – und die Redaktion Text spart. Kostet nur Geld. Im Innenteil der Beilage werde ich von einer dynamisch rüberkommenden Mittdreißigerin angestarrt, die rechte Schulter hoch gezogen, die linke leicht herunterhängend, Kopf kerzengerade, hinter schwarzem Brillengestell (Fenstergläser?) ein angriffslustiger Blick, strenger Mittelscheitel, graues Hemd, karrierebewusst. Botschaft: Ich bin da, wo vorne ist. Mein erster Gedanke: Wo ist die Perlenkette? Hat die kühle Dame, die weiß, wo es langgeht, eine Auskennerin im Leben wie im Netz einen Haltungsschaden? Warum verbiegt sie sonst ihre Figur? Bestimmt hat sie ein Cosmopolitan-Abo, fährt Cabrio, reitet, wählt schwarz oder gelb. Für einen Hund ist keine Zeit.
Sie ist die Blog-Wartin der Zeitung, deshalb nennt sie ihre Samstagskolumne „Netzhaut“. Das ist originell. Darauf muss man erst kommen. Über deutsche Blogger sagt sie mit Hinweis auf die repressiven Zustände im Iran: „überwiegend“ seien das junge Minderleister „oder notorische Nörgler mit zuviel Tagesfreizeit“. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht bloggen? Ich übersetze mir das so: Deutschland ist super drauf, nur, wer arbeitslos ist, soll die Schnauze halten. In dieser lockeren Formulierung steckt der Ruf nach Zensur. Öffentlich äußern sollten sich allein die Diskursfähigen, die nachweisbar Arbeitenden, aber „hormonell übersteuerte Teenager“, Rentner, Hartzler, ALGler; die kühle Dame versucht mir ihre Inländerfeindlichkeit als demokratisch gefärbten Süßstoff einzuflößen.
Woher kommt diese Netzhautkrümmung? Da draußen ist alles super. Die Arbeitslosenzahlen gehen dank Frau Merkel in den Keller. Wer arbeiten will und nicht „notorisch“ über die Konditionen „nörgelt“, kriegt auch Arbeit. Die 400-Euro-Jobs ohne Sozial- und Rentenversicherung sind in großer Zahl vorhanden. Sieht das „notorisch nörgelnde“ Dummvolk das denn nicht? Wer damit nicht klar kommt, kann ja nach drüben gehen; in den Iran.