DEMENZ
3. Mai 2010 | Von admin | Kategorie: FotografieDemenz und Alzheimer – zwei begrifflich eng miteinander verwandte Zustandsbeschreibungen für das schleichende Vergessen im Alter. Was die Begriffe meist verschleiern, zeigt Sebastian Suttorp in seiner sozialdokumentarischen Diplomarbeit über seine an Demenz erkrankte Großmutter. Die 89-jährige Witwe wird im Kreis der in vier Generationen zusammenlebenden Familie versorgt und gepflegt - eine Belastungsprobe für die Versorger.
Soll man sich über die Prognosen des zu erwartenden Lebensalters freuen? Im Mittel ist die Lebenserwartung im Vergleich zu vorangegangenen Generationen deutlich gestiegen. Der Frieden im Land, die Abwesenheit von Hunger, Durst, die Verfügbarkeit von beheizten Wohnungen, die Anwesenheit einer leistungsfähigen Medizin geben erst einmal Grund zu Optimismus. Laut Statistik ist die Lebenserwartung erheblich gestiegen. Die stetig wachsende Zahl an 80-, 90-jährigen, die einen angenehmen Lebensabend verbringen, bestätigen die oberflächliche Einschätzung, dass ein selbstbestimmtes Leben bis ins hohe Alter für jedermann denkbar ist.
Diese fröhlichen und relativ fitten Alten, wie sie einem in den lupenrein fotografierten Werbeblättern der Krankenkassen entgegenlächeln, verstellen allerdings den Blick auf die Kehrseite der gleichen Medaille. Denn es gibt die Anderen, denen im fortgeschrittenen Alter das Denken und die Kontrolle über die Körperfunktionen abhanden gekommen sind. Dass sie eine schweigende Mehrheit mit schwacher Lobby darstellen, in Alters-Reservaten ein auf Satt- und Sauberpflege minimiertes Leben führen, wird gerne ausgeblendet.
Diese andere Seite der Alters-Medaille zeigt nämlich ein ganz anderes Bild, das den vorgetragenen Optimismus erheblich dämpft. Wie viele Alte vereinsamt vor sich hin dämmern, senil sind, von Pflege abhängig, entmündigt, bettlägerig, gedemütigt, deren Warten auf das Sterben kein Leben mehr ist, solch ein Bild ist der verkörperte Widerspruch zu einem gesellschaftlichen Selbstbildnis, das einem Mantra gleich den Jugendwahn und die Alterslosigkeit anbetet, die Abwesenheit von Krankheit und das Streben nach Bildung und Wissen zu den glücklich machenden Allheilmitteln erklärt. Wer dem Anforderungsprofil nicht mehr entspricht, verschwindet nach kühl kalkulierter Kosten-Nutzen-Analyse in der Versenkung eines Altenasyls. Wer zur Last fällt, entfällt aus der glänzenden Wertschöpfungskette der Profitmaximierung. Er wird zum Kostenfaktor erklärt. Versagen oder protestieren Hirn und Körperkräfte, reduziert eine nach Sekundentakten aufgeschlüsselte Pflege die menschliche Zuwendung. Von der Sorge, eines Tages selbst im Mehrbettzimmer einer Pflegestation oder in der Anonymität eines Krankenhauses seinen letzten Atemzug zu tun, kann sich wahrscheinlich nur ein geringer Bruchteil der Alten freisprechen.
Im »Waschhaus« der Ruhrakademie zeigt Sebastian Suttorp private Fotografien über das Leben seiner Familie mit der an Demenz erkrankten Großmutter. Wobei unklar ist, ob eine Demenz respektive Alzheimer überhaupt ein Krankheitsbild darstellt oder ob der irreversible Neuronenschwund zum individuellen Alterungsprozess gehört. Im Gelehrtenstreit beansprucht die Medizin die Deutungshoheit über das Alter. Andere Disziplinen fordern die Entpathologisierung des Altwerdens, die Akzeptanz des natürlichen Abbauprozesses.
Die Fotografien zeigen jedenfalls das Bemühen der Familie, der alten Dame ein fürsorgliches Zuhause zu bereiten, ihr Spaß und Freude in den angespannten Alltag zurückzubringen, ihr Gedächtniskrücken anzubieten, um die Erinnerung an das Gestern solange wie möglich in ihr wach zu halten. Andererseits vermitteln die empathischen Einblicke in das Private aber auch den Erschöpfungsgrad der Familienmitglieder. Wie schwer es für sie ist, die schleichende Auflösung der Identität der Großmutter zu akzeptieren, und zu wissen, welche Belastungsprobe noch auf sie zukommt.
Im mittleren Demenz-Stadium verbleiben einige Erinnerungsfetzen. Mit fortschreitendem Verlauf der Demenz versiegt der Quellcode der Persönlichkeit. Es klaffen zunehmend größere Gedächtnislücken, die Sprache und der innere Autopilot zur Orientierung versagen. Name, Geburtsdatum, das Vergessen der eigenen Kindheit sind die Folge. Bis schließlich die Identität ins Leere verschwindet. Zuletzt ist das Gehirn entleert. Es wird »ohne Geist« - dement
Über den Zeitraum von anderthalb Jahren hat Sebastian Suttorp die Spuren des Gedächtnisabbaus fotografisch beschrieben. Er nennt seine Diplomarbeit: »Das bin ich nicht!«. Ein Zitat seiner 89-jährigen Großmutter, das Aufschluss darüber gibt, wie die Krankheit über die Jahre ihr Wesen verändert hat, sie sich selbst entfremdet, ihre Kinder und Kindeskinder und den Urenkel als Fremde ansieht.
Den Alltag in dem Mehrfamilienhaus, in dem die Großfamilie unter einem Dach lebt, beschreibt Sebastian Suttorp als angespannt. In jeden Moment kann es zu einer neuen Überraschung kommen. Wenn seine Großmutter aus dem Fenster um Hilfe ruft, sie in der Vergangenheit auf der Straße umherirrt, geistig abwesend in den immer gleichen Büchern blättert, sich an einer Blechdose voller Erinnerungsstücke festhält.
Von einem Tabubruch ist die Rede, wenn Autoren wie Tilman Jens den geistigen und körperlichen Verfall eines Angehörigen bis ins kleinste Detail schildern. Von Verletzung der Würde wird gesprochen, von fehlendem Anstand, Ethik, Moral. Vielleicht ist es das Greisenhafte selbst, das Angstreflexe hervorruft - und es deshalb ein Tabu darstellt.
Dass Demenz oder Alzheimer (benannt nach dem Psychiater Alois Alzheimer) möglicherweise mit allen Risiken und Nebenwirkungen zum Leben gehört, passt anscheinend nicht in das Selbstbild von grenzenloser Leistungssteigerung. Fakt ist: Irgendwann sind die natürlichen Hirn-Ressourcen jedes Einzelnen aufgebraucht. Laut DER SPIEGEL nennt der World Alzheimer Report dazu einige Zahlen: »Etwa 4,7 Prozent der über 60-Jährigen« sind von Verwirrtheit betroffen. »Zwischen 80 und 89 Jahren liegt das Risiko bei knapp 20 Prozent. Ab 90 trifft es jeden Dritten«.
Eine Vollkaskoversicherung gegen Demenz gibt es demnach nicht. Allenfalls lässt sich das Risiko wie es in Empfehlungen heißt um einiges senken. Zu den Risiko-Senkern zählen die üblichen Verdächtigen wie Sport und eine entsprechend entfettete Figur, eine ausgewogene Ernährung, saubere Luft, soziale Kontakte, ein langes Berufsleben und natürlich Bildung. Es wird so getan, als läge es an jedem Einzelnen, das Risiko der Altersverwirrtheit zu minimieren. Womit die Sozialarchitekten fein aus dem Schneider wären, denn für eine saubere Umwelt, ein langes Berufleben oder Bildung hat jeder selbst zu sorgen. Dass aber auch ein nach diesem Maßnahmenkatalog der Ideale ausgerichtetes Leben keinen Schleichweg aus dem Alter bietet, führt zu den schlichten Einsicht: irgendwann ist jeder alt.
Für das sozialdokumentarische Familienportrait hat Sebastian Suttorp die unmittelbare Fotografie gewählt. Diese Herangehensweise verzichtet auf glatt stilisiertes Licht, auf Retuschen am Rechner, negiert das inzwischen zum Standard erhobene Artifizielle. Seine Fotografie zeigt viel mehr eine Haltung zum Sujet. Er hat sich getraut, leise Fotografien in sein Buch aufzunehmen, die im Wortsinn die Grenze zwischen jung und alt aufzeigen; Schutz und Selbstschutz gehen dabei fließend ineinander über. Die Reaktionen des meist jungen Publikums, das während der Diplompräsentation im »Waschhaus« der Ruhrakademie anwesend ist, fasst eine Studentin in den Worten zusammen: »Wir haben geweint.«
Zum Weiterlesen:
DER SPIEGEL – WISSEN NR. 1 | 2010: Die Reise ins Vergessen – Leben mit Demenz