RACHE UNSER
9. Januar 2010 | Von admin | Kategorie: Fotografie, WettbewerbeCarl de Keyzer: ZONA, Sibirian Prison Camps
Dem britischen Premierminister Winston Churchill werden vier Aphorismen zugeschrieben, die in ihrer unmittelbaren Prägnanz in Erinnerung bleiben, selbst dann, wenn man keinen blassen Schimmer von seiner konservativen Politik hat. Churchill sagte den weltbewegenden Satz: »Sport ist Mord«, der, wie jedes Zitat aus dem Zusammenhang gerissen ist und im konkreten Fall mehr Auskunft über Churchills Beziehung zu den Leibesübungen gibt als dass der Satz Allgemeingültigkeit besäße. Sein zweiter weltbewegenden Satz hat nihilistische Züge: »Scheitere, scheitere besser, scheitere noch besser« oder so ähnlich geht eindeutig ins Eingemachte. Schade, dass der Satz unter deutschen Politikern keine Popularität besitzt. Der dritte dem dicken, zigarrepaffenden Churchill zugeschriebene Satz gefällt mir persönlich sehr gut: »Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe«. Um sich von der Richtigkeit des Satzes zu überzeugen, braucht man nur aus dem Fenster zu gucken. Dort treibt »Daisey« ihr females Unwesen und hält den profanen Konsumenten von seiner wichtigsten Bürgerpflicht ab. Vorausgesetzt, man betrachtet die Wettervorhersage als Statistik und die Verbreiter der »Unwetterkatastrophe« als Nachfolger des Propagandaministeriums.
Bleibt noch Churchills 4. Wortsymphonie: »Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit ihren Gefangenen umgeht.« Das ist ein Satz, der als Prolog im Jahresbericht von amnesty international (ai) stehen könnte, denn in den Jahresberichten informiert die NGO über die Zustände in den Gefängnissen weltweit. Ohne die Arbeit von ai würde Vieles, was in den Gefängnissen im Namen der Rache passiert, unter den Teppich gekehrt werden.
Fotografisch ist das ein klassisches Thema der MAGNUM-Fotografen-Kooperative. Wo die kriminellen Metastasen einer Gesellschaft hinter streng bewachten Mauern »behandelt« werden, halten MAGNUM-Fotografen wie Operateure mit der Kamera ihre Sehmaschine rein. Daraus schöpft die Agentur ihr Selbstverständnis. Sie betrachtet sich von ihrem Gründungsgedanken als Anwalt der Rechtlosen, der Geschundenen und Ausgebeuteten.
Dass sich die Agentur MAGNUM von ihrem Grundgedanken längst entfernt hat, erklärt Gerry Badger mit der Veränderung der Marktverhältnisse. Eine Erklärung, die als Allzweckwaffe für jede Aufweichung eines Gedanken genutzt werden kann. In der Übersetzung heißt das: mit solch einer Fotografie ist kein Geld mehr zu verdienen. Wer will schon das ganze Weltelend sehen, wo es doch vor allem darum geht, den eigenen Kühlschrank vollzustopfen.
Carl de Keyzer (Belgier, *1958) hat in sibirischen Gefängnissen fotografiert. Mit Sibirien assoziiert man gleich Alexander Solschenizyns »Der Archipel Gulag«, »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch«, das stalinistische Russland als Vollstrecker eines menschenverachtenden Rachesystems. Dorthin hat Diktator Stalin seine »Kritiker« verschwinden lassen, dass sie in Eiseskälte an Hunger, Krankheiten, unter der Last von Zwangsarbeit elendig krepieren.
Mit den Bildern Solschenizyns im Kopf fotografierte de Keyzer Gefängnisse in Sibirien. Sein 2003 im »Trolley«-Verlag veröffentlichtes Buch heißt: »ZONA – Sibirian Prison Camps«. Er hatte, schreibt de Keyzer, »eine grimmige Vorstellung von diesen Gefängnissen, dunkle Bilder der Tortur«.
Zu seiner Überraschung zeigte sich ihm das sibirische Gefängnissystem Alexander Putins als ein von kahlgeschorenen Gefangenen süßlich gestaltetes »Disneyland«: kitschige Wandmalerien im leichten blau-grün, metallene von den Gefangenen entworfene Wachsoldaten. Es geht also gedämpft farbig in sibirischen Gefängnissen zu. Eine tolle Entwicklung in Richtung Demokratie, sollte man meinen, alles halb so wild im Vergleich zu Solschenizyns Schilderungen aus dem Tagebuch des »Iwan Denissowitsch«.
Sieht man sich die Fotos genauer an, offenbart sich jedoch die Perfidie und Härte dieses Gefängnissystems. Es zielt wie andere Strafformen auf die Zermürbung der Gefangenen, auf deren Hirnaufweichung. Vornehmer in der Diktion der Rachetechniker ausgedrückt beabsichtigt der Rachezweck eine Verhaltenskorrektur der Gefangenen.
Donovan Wylie: The Maze
Einige tausend Kilometer westlich von Sibirien hat der MAGNUM-Fotograf Donovan Wylie (Brite, *1971) das berühmt-berüchtigte Gefängnis »The Maze« fotografiert. Der in Belfast geborene nordirische Fotograf wurde bereits mit 23 Jahren bei MAGNUM vorgeschlagen, eine Auszeichnung, die nach meiner Einschätzung mit Wylies Geburtsort in Verbindung steht und weniger mit seinem herausragenden fotografischen Können. Die Frage muss gestattet sein: Welcher englische Fotograf käme auf die Idee, den Ort eines der düstersten Kapitel der Thatcher-Ära zu fotografieren. Martin Parr ganz sicher nicht.
»The Maze« ist hierzulande durch die Münsteraner Kapelle »The H-Blockxs« bekannt. In den H-förmigen Gefangenentrakten von »The Maze« haben sich zehn IRA-Kämpfer um Bobby Sands zu Tode gehungert. Zur Lektüre des Buches von Donovan Wylie empfehle ich zur Einstimmung in das Thema den Spielfilm »Hunger« des Turner-Preisträgers Steve McQueen. Und um den Geist der damaligen Zeit besser nachvollziehen zu können, als weiteren Spielfilm: »Im Namen des Vaters« von Regisseur Jim Sheridan und den glänzend aufgelegten Oscar-Preisträgern Daniel Day-Lewis und Emma Thompson.
In diesem Paket zeigt sich, wie viel das Churchill-Wort: »Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie ihren Gefangenen umgeht« in der Realität wert ist.